- Gentechnik: Wie weit darf die Gentechnologie gehen?
- Gentechnik: Wie weit darf die Gentechnologie gehen?Einige Jahre entwickelte sich der kleine M. gut. Aber dann zeigten sich die ersten Symptome der Krankheit: Atembeschwerden, verschleimte Lungen, Entwicklungsverzögerungen. Nach einiger Zeit war die Diagnose klar: Mukoviszidose, eine Erbkrankheit. Nachdem der erste Schock über diesen Befund überwunden war, mussten sich die Eltern mit der Tatsache auseinander setzen, dass beide Träger der krankheitsverursachenden Erbanlage sind. Bei ihnen werden die Effekte dieser Gene allerdings nicht wirksam, da sie in mischerbiger Form vorliegen. Den Mendel'schen Vererbungsregeln zufolge hat jedes ihrer Kinder eine 25-prozentige Erkrankungswahrscheinlichkeit, die sich in ihrem Fall bereits beim ersten Kind realisiert hatte. Dennoch wünschte sich das Paar ein zweites, gesundes Kind. Aus diesem Grund wurde bei der nächsten Schwangerschaft eine vorgeburtliche Diagnostik durchgeführt — mit niederschmetterndem Ergebnis: Der Fötus war ebenfalls reinerbiger Träger der krankhaften Erbanlage. Das Paar entschied sich für einen Abbruch der Schwangerschaft. Auch bei der nächsten Schwangerschaft hatte der Fötus wieder die ungünstige Genkombination erhalten. Auch in diesem Fall entschied sich das Paar gegen das Austragen des Kindes.So oder so ähnlich geht es jährlich einigen Dutzend Paaren in der Bundesrepublik Deutschland. Manche wollen sich nicht damit abfinden, kein gesundes Kind bekommen zu können, wollen aber keinen Schwangerschaftsabbruch riskieren. In diesem Fall konnten die Paare sich bislang entscheiden, auf (weitere) Kinder zu verzichten, eines zu adoptieren oder auf eine Samenspende zurückzugreifen.Eine neue Untersuchungsmethode erweitert jetzt das Angebot möglicher Alternativen: die Präimplantationsdiagnostik. Bei diesem Verfahren werden Embryonen, die durch künstliche Befruchtung im Reagenzglas erzeugt wurden, zwei Zellen entnommen, und daran eine genetische Untersuchung durchgeführt. Mithilfe von Chromosomen- oder Genanalysen können das Geschlecht des Embryos, Abweichungen von der normalen Chromosomenzahl und -struktur oder auch molekulare Genveränderungen festgestellt werden. Danach werden diejenigen Embryonen, die einen auffälligen Befund zeigen, verworfen und es werden nur diejenigen in den Körper der Frau übertragen, welche die befürchtete Genveränderung oder -kombination nicht aufweisen. Auf diese Weise können spätere Abtreibungen vermieden werden.Die Präimplantationsdiagnostik ist die vorläufig avancierteste Entwicklung im Bereich der Gendiagnostik. In ihr konvergieren zwei entscheidende Entwicklungslinien der modernen Medizin: die molekulare Humangenetik und Gendiagnostik auf der einen, und die Reproduktionsmedizin auf der anderen Seite. Hier kumulieren aber auch die brisantesten ethischen und gesellschaftlichen Fragen, die heute an die biomedizinische Forschung und Praxis zu stellen sind. Schlagworte wie Eugenik, Embryonenforschung, Klonieren, Keimbahnmanipulation und Mensch nach Maß spielen hier eine Rolle. Deshalb können am Beispiel der Präimplantationsdiagnostik und des sich im Überlappungsbereich von Gen- und Reproduktionstechnik entwickelnden Methodenspektrums viele der ethischen und sozialen Herausforderungen verdeutlicht werden, mit denen die Gesellschaft heute durch diese Entwicklungen konfrontiert wird.Neue FreiheitenSeitdem im Rahmen des weltweit betriebenen Humangenomprojekts das gesamte menschliche Genom Baustein für Baustein entschlüsselt wird, wachsen die Möglichkeiten zur Identifizierung von Strukturabweichungen der DNA, die kausal mit der Entstehung von Krankheiten verknüpft sind oder mit ihrer Entwicklung korrelieren. Darauf aufbauende Gentests ermöglichen es, die Träger genetischer Strukturveränderungen frühzeitig zu identifizieren — entweder bevor sie sich zur Fortpflanzung entschließen oder in den verschiedenen Stadien der embryonalen oder fötalen Entwicklung. Das Interesse, auf das besonders die Präimplantationsdiagnostik stößt, ist nachvollziehbar, denn Schwangerschaftsabbrüche nach Fehlbildungsdiagnosen, so wie sie heute in verschiedenen vorgeburtlichen Untersuchungen (Pränataldiagnostik) erhoben werden, stellen vor allem für die betroffenen Frauen eine häufig unterschätzte Belastung dar. Das am häufigsten vorgebrachte Argument für den Einsatz der Präimplantationsdiagnostik ist daher auch, dass Schwangerschaftsabbrüche vermieden werden können. Um das Verfahren jedoch sachgerecht und umfassend bewerten zu können, müssen den heutigen Standards der Technikfolgenabschätzung und -bewertung zufolge auch seine Voraussetzungen und weitergehenden Konsequenzen berücksichtigt werden.Damit Embryonen für die Präimplantationsdiagnostik zugänglich werden, muss die betreffende Frau sich zunächst einer In-vitro-Fertilisation (IVF) unterziehen. Um die Eireifung und anschließende Eientnahme (Follikelpunktion) zu ermöglichen, werden Hormone verabreicht. Damit für die Untersuchung genügend Embryonen zur Verfügung stehen, wird die hormonelle Stimulation in der Regel intensiver sein als bei einer normalen IVF. Dabei können gelegentlich schmerzhafte bis gefährliche Überstimulationen auftreten, und eine Erhöhung des Risikos für eine spätere Krebserkrankung kann nicht ausgeschlossen werden. Da die durchschnittliche Schwangerschaftsrate nach künstlicher Befruchtung um 20 Prozent liegt, muss die Behandlung mehrmals durchgeführt werden, bis es zur Geburt eines Kindes kommt. Meist werden zwei oder drei Embryonen bei einer IVF übertragen, um die Wahrscheinlichkeit einer Schwangerschaft zu erhöhen. Dadurch kommt es deutlich häufiger als bei natürlichen Zeugungen zu Mehrlingsschwangerschaften. Dies kann auch langfristig zu einer körperlichen und seelischen Belastung für die Mutter werden. Die Belastungen durch diese Behandlung müssen somit nicht notwendigerweise geringer sein als diejenigen, die durch einen Schwangerschaftsabbruch entstehen. Da die Prozedur jedoch mit dem positiven Ziel verbunden ist, ein Kind ohne die befürchtete Erbkrankheit zu bekommen, sind viele Frauen trotzdem bereit, sich ihr zu unterziehen.Die freiwillige, autonome Entscheidung der Frau ist eine wichtige Voraussetzung für die Vertretbarkeit reproduktionsmedizinischer Eingriffe. In der Praxis kann sie durch verschiedene Faktoren eingeschränkt werden. In verschiedenen Untersuchungen zur Pränataldiagnostik, die hier vergleichsweise herangezogen werden können, fanden es fast alle Frauen schwierig, die Untersuchung abzulehnen, wenn sie ihnen angeboten wurde. Auch wenn kein direkter externer Zwang vorhanden war, fühlten sie sich in gewisser Weise zu dem Test verpflichtet.Darüber hinaus trägt die wachsende Verfügbarkeit genetischer Diagnostik dazu bei, dass sich die Erwartungen beispielsweise an Schwangere verstärken: Sie müssen alles ihnen Mögliche tun, um die Geburt von kranken oder behinderten Kindern zu vermeiden. Die englischen Psychologinnen Theresa Marteau und Harriet Drake fanden in einer 1995 veröffentlichten Untersuchung heraus, dass denjenigen Frauen, die von der Existenz vorgeburtlicher Untersuchungen wussten und sie nicht in Anspruch genommen hatten, mehr Verantwortung für die Geburt von Kindern mit Down-Syndrom zugeschrieben wurde als den Frauen, die die Untersuchung deshalb nicht machten, weil sie keine Kenntnis davon hatten. Die Verfügbarkeit genetischer Tests und die wachsende Information darüber kreiert demzufolge auch eine gesellschaftliche Erwartungshaltung, der sich der Einzelne nur schwer entziehen kann. Wenn Frauen mit behinderten Kindern auf Spielplätzen zu hören bekommen, dass solche Kinder doch heute nicht mehr geboren werden müssten, dann kann von Autonomie und freier Entscheidung nur noch mit Einschränkungen gesprochen werden. Darüber hinaus wird die Akzeptanz vorgeburtlicher Untersuchungen und genetischer Tests umso mehr gefördert, je enger sie in die klinische Routine eingebunden sind, und zwar stärker als wenn in einer speziellen Beratung über die möglichen Konsequenzen solcher Untersuchung und über verfügbare Alternativen informiert und diskutiert wird.Inwieweit solche Erwartungshaltungen und impliziten Zwänge auch im Zusammenhang mit der Präimplantationsdiagnostik eine Rolle spie- len werden, ist offen. Sobald sich die Präimplantationsdiagnostik als Verfahren fest etabliert hat, ist anzunehmen, dass sich zumindest für die Paare, die Träger einer Erbkrankheit oder der entsprechenden Veranlagung dafür sind, ein moralischer Druck entwickeln kann, das Verfahren zu nutzen, um Schwangerschaftsabbrüche zu vermeiden.Vom Schwangerschaftskonflikt zur EmbryonenselektionAnders als die Pränataldiagnostik wird die Präimplantationsdiagnostik in Deutschland nicht durchgeführt. Zum einen verbietet das Embryonenschutzgesetz die Entnahme und die bei der genetischen Untersuchung erfolgende Zerstörung embryonaler Zellen im Zustand der Totipotenz. Damit wird die Eigenschaft embryonaler Zellen beschrieben, sich unter geeigneten Bedingungen wieder zu einem vollständigen Individuum entwickeln zu können. Aus diesem Grunde werden totipotente Zellen wie Mehrlinge betrachtet, die durch die künstliche Teilung eines Embryos erzeugt worden sind. Obwohl die Eigenschaft der Totipotenz bei menschlichen Embryonen bislang nicht direkt — das heißt durch erfolgreiche Entwicklung einer solchen Zelle zu einem Embryo im weiblichen Körper — untersucht wurde, geht man aufgrund indirekter Befunde davon aus, dass die Zellen eines Embryos sie nach der dritten oder vierten Zellteilung, also spätestens im 16-Zell-Stadium verloren haben. Außerdem verbietet es das Embryonenschutzgesetz auch, mehr Embryonen zu erzeugen, als zur Etablierung einer Schwangerschaft notwendig sind. Um Mehrlingsschwangerschaften zu vermeiden, wurde diese Zahl auf drei Embryonen begrenzt. Die Präimplantationsdiagnostik zielt nun darauf ab, auffällige Embryonen von der Übertragung auszuschließen; es müssten jedoch notwendigerweise mehr Embryonen erzeugt werden, als übertragen werden sollen. Daher ist davon auszugehen, dass die Präimplantationsdiagnostik auch in späteren embryonalen Entwicklungsstadien nicht gestattet ist, wenn die einzelnen embryonalen Zellen ihre Totipotenz verloren haben — was heute technisch ohnehin noch recht schwierig ist.Aber warum soll es erlaubt sein, Schwangerschaften auch noch in späteren Stadien nach einer Fehlbildungsdiagnose abzubrechen, nicht aber, einen vier- oder achtzelligen Embryo zu verwerfen? So gesehen besteht zwischen dem hohen Schutzniveau des Embryonenschutzgesetzes und der Möglichkeit zum Schwangerschaftsabbruch, die durch die §§ 218 und 219 des Strafgesetzbuches geregelt wird, ein Widerspruch. Wenn allein die Tötung des Embryos zur Debatte steht, ist in der Tat kaum zu begründen, warum die Tötungshandlung in der einen Situation erlaubt und in der anderen verboten sein soll.Die beiden Handlungen sind jedoch aus einer Reihe von Gründen nicht miteinander zu vergleichen. Zum einen reagieren die Beteiligten bei der Abtreibung nach einer Pränataldiagnostik auf einen vorhandenen Zustand. Beim Verwerfen von Embryonen nach Präimplantationsdiagnostik agieren sie: Die Einwilligung zum Transfer der erzeugten Embryonen wird von einem unauffälligen genetischen Befund abhängig gemacht, das heißt, es wird eine Entscheidung gefällt, bevor ein Embryo oder eine Schwangerschaft entsteht. Zweitens erfolgt bei der Pränataldiagnostik eine negative Selektion, das heißt, die Frau entscheidet sich im Zweifelsfall gegen einen fehlgebildeten Fötus. Im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik erfolgt eine positive Selektion, das heißt unter mehreren vorliegenden Embryonen werden diejenigen transferiert, deren Untersuchung ein unauffälliges oder sogar wünschenswertes Ergebnis zeigt. Damit bietet die Präimplantationsdiagnostik zum ersten Mal die Möglichkeit, zur Etablierung einer spezifischen Schwangerschaft unter mehreren Embryonen auszuwählen. Dadurch wird mit dieser Methode eine sehr viel weitergehende Möglichkeit zur Selektion geschaffen, als im Rahmen einer Pränataldiagnose möglich ist. Drittens ist die Schwangerschaft eine einzigartige Situation, die durch eine enge leibliche Verbindung zwischen Embryo und weiblichem Körper charakterisiert ist, ohne die der Embryo weder lebens- noch entwicklungsfähig ist. Da das Austragen einer Schwangerschaft weitreichende Konsequenzen für die Frau und ihr Leben hat, hat sie im Konfliktfall das Recht, die Schwangerschaft zu beenden. Aufgrund der Einzigartigkeit dieser Situation ist es jedoch nicht legitim, daraus Rechtfertigungen für andere Situationen oder Handlungen abzuleiten, die mit einer Schwangerschaft in keiner Weise vergleichbar sind.Im Rahmen der Präimplantationsdiagnostik werden Embryonen einer »Qualitätsprüfung« unterzogen. Dies kann zu ihrer Entmoralisierung beitragen und sie für weitere Verwendungszwecke leichter zugänglich machen. Insofern kann die Präimplantationsdiagnostik nicht nur als eine experimentelle und moralische Einübung in die Selektion von Embryonen, sondern auch in die Embryonenforschung und den Embryonenverbrauch angesehen werden. Es sprechen also eine Reihe von Argumenten gegen die Zulassung der Präimplantationsdiagnostik. Als Alternative bietet sich neben der Nutzung von Spendersamen, die effektiv und für die Frau ohne gesundheitliches Risiko ist, die Polkörperdiagnostik an. Bei diesem Verfahren wird das Erbmaterial der Polkörper analysiert, die bei der Reifeteilung der Eizelle ausgeschieden werden und eine Hälfte des mütterlichen Erbmaterials enthalten. Das Verfahren hat jedoch auch Nachteile. Zum einen erfordert es ebenfalls eine IVF, die die behandelte Frau physisch und psychisch belastet. Da es an der Eizelle durchgeführt wird, können zum anderen nur die Eigenschaften des mütterlichen Erbmaterials untersucht werden, wobei allerdings viele der häufigsten Erbkrankheiten erfasst werden können. Der Vorteil dieses Verfahrens besteht jedoch darin, dass es an Eizellen vor der Befruchtung durchgeführt werden kann. Deshalb spricht man auch von einer präkonzeptionellen Diagnostik. In diesem Fall würde kein Embryo erzeugt oder durch die Präimplantationsdiagnostik zerstört. Das durch das deutsche Embryonenschutzgesetz gegebene hohe Schutzniveau für Embryonen müsste nicht gesenkt und ein weitergehender Zugriff auf Embryonen könnte unterbunden werden.Instrumentalisierung menschlichen Lebens für medizinische Zwecke?Das Nachdenken über den Schutz von in vitro erzeugten Embryonen ist heute aktueller denn je. Kürzlich gelang es beispielsweise dem Biologen James Thompson und seiner Gruppe von der Universität von Wisconsin, einen wenigzelligen Embryo in »embryonale Stammzellen« umzuwandeln. Solche Stammzellen sind im Prinzip in der Lage, nach Behandlung mit Wachstumsfaktoren beispielsweise Zellen des Knochenmarks oder des Nervengewebes zu bilden, die nach Vermehrung in den menschlichen Körper transplantiert werden könnten. Dort sollen sie — so die Vorstellung — unter anderem verletzte Nerven regenerieren, Alzheimer- oder Parkinson-Kranken helfen oder auch Krebspatienten, deren Knochenmark durch die Chemotherapie geschädigt wurde.Da bei der Verwendung embryonaler Stammzellen ähnlich wie nach einer Transplantation von Spenderorganen Gewebeunverträglichkeiten auftreten könnten, wäre es aus medizinischer Sicht wünschenswert, wenn die für die Regeneration eingesetzten Zellen mit denen des Patienten oder der Patientin identisch wären. Und hier kommt das Klonen ins Spiel: Um solche identischen Stammzellen zu erzeugen, könnte ein Zellkern des zukünftigen Empfängers mit einer entkernten weiblichen Eizelle verschmolzen werden. Daraus würde im günstigen Fall — wie bei dem Schaf Dolly — ein wenigzelliger Embryo entstehen. Nach Auswachsen und Vermehrung der Zellen läge genügend Gewebe für einen Transplantationsversuch vor, und aus dem embryonalen Klon des Zellkernspenders wäre verträgliches Ersatzgewebe geworden.Experimente mit Embryonen oder embryonalen Klonen sollen auch helfen, die Keimbahntherapie zu entwickeln. Damit sollen — so das Ziel — krankhaft veränderte DNA-Sequenzen in einem Embryo durch normale ersetzt oder ihre Funktionen durch neu eingeführte Gene komplementiert werden. Die Keimbahntherapie wäre somit eine Möglichkeit, krankhafte Erbanlagen in einer Familie ein für alle Mal zu korrigieren, anstatt ihre Konsequenzen in jeder Generation aufs Neue therapieren zu müssen. Um das neue Gen funktionstüchtig im Genom des Empfängers zu etablieren, könnte es zunächst in zuvor aus dem Embryo erzeugte embryonale Stammzellen übertragen werden. Unter den entstandenen transgenen Zellen könnten dann diejenigen herausgesucht werden, bei denen das neue Gen in intakter Form an der richtigen Stelle in das Erbmaterial eingebaut wurde. Aus einer solchen genmanipulierten Stammzelle ließe sich dann durch Klonen ein neuer Embryo mit den gewünschten korrigierten oder zusätzlichen Eigenschaften erzeugen.Solche und andere Eingriffe in die menschliche Keimbahn sind in Deutschland und in einer Reihe anderer Länder verboten, und sie wurden bislang — zumindest soweit bekannt — noch nirgendwo durchgeführt. Ein wichtiger Grund für diese Zurückhaltung ist das Risiko solcher Eingriffe: Es ist kaum vorherzusagen, ob das neue Gen im Empfänger auch langfristig richtig arbeitet und ob durch den Gentransfer nicht andere wichtige Funktionen zerstört werden. Die neuen Stammzelltechniken und das Klonen könnten durch die in ihrem Zusammenhang mögliche Vorselektion jedoch dazu beitragen, Vorbehalte aus medizinischer und ethischer Perspektive gegen Keimbahneingriffe zu unterminieren. Zumindest in den USA plädieren immer mehr Wissenschaftler dafür, nunmehr konkret mit der Entwicklung der Keimbahntherapie zu beginnen.All dies ist noch wissenschaftliche Zukunftsmusik, und es ist fraglich, ob es überhaupt gelingen wird, die Frühstadien der menschlichen Entwicklung so weitgehend unter technische Kontrolle zu bringen. Viele Wissenschaftler gehen jedoch davon aus, dass eine Veränderung der menschlichen Keimbahn letztlich einfacher sein wird, als den experimentellen Gentransfer in menschliche Körperzellen — die somatische Gentherapie — zu einer wirksamen Behandlungsform für Erbkrankheiten zu entwickeln, was bisher nicht gelungen ist. Selten berücksichtigt wird dabei allerdings, dass es bei Versuchen zur Veränderung der menschlichen Keimbahn mit großer Wahrscheinlichkeit auch Fehlschläge geben wird: Die aus den Experimenten hervorgehenden Embryonen oder Föten können durch den Eingriff geschädigt werden und Fehlbildungen oder Entwicklungsstörungen zeigen. Was soll mit ihnen geschehen? Wird man sie verwerfen, wenn die Störung schon früh erkennbar wird, oder abtreiben, wenn die Fehlbildung sich erst nach der Herausbildung der menschlichen Gestalt zeigt? Wird werdendes menschliches Leben bei dem Versuch seiner gentherapeutischen Nachbesserung zum Ausschuss, der als Preis für den medizinischen Fortschritts gezahlt werden muss?Biomedizinische Forschung und EthikkodizesDamit schließt sich der Kreis. Die Präimplantationsdiagnostik eröffnet nicht nur neue Möglichkeiten zur Vermeidung der Geburt von Kindern mit Erbkrankheiten oder unerwünschten genetischen Merkmalen, sondern gemeinsam mit zellbiologischen und reproduktionsmedizinischen Innovationen auch neue biomedizinische Forschungs- und Handlungsfelder, und — damit verbunden — Investitionen und neue Märkte. Dokumentiert wird dies zurzeit durch den weltweiten Wettlauf um das Klonen menschlicher Embryonen, die — transformiert in transplantierbares Gewebe — zur regenerationsfähigen Ressource für pharmazeutische Unternehmen werden sollen. Viele Menschen und ganze Unternehmenszweige verbinden mit diesen und anderen Errungenschaften der modernen Gen- und Biotechnologie nicht nur die Hoffnung auf Gesundheit und Heilung, sondern auch auf eine biotechnische Revolution. Dadurch könnten das Programm und die Entwicklungsfähigkeit des Lebens selber in Dienst genommen werden, um sowohl die Medizin als vielleicht auch ganze Bereiche des menschlichen Lebens wie die Fortpflanzung grundlegend neu zu gestalten. Zwar ist keineswegs gesichert, dass sich die therapeutischen Visionen realisieren lassen. Dennoch werden gerade sie immer wieder beschworen; unter anderem um den Bruch mit heute noch bestehenden moralischen Tabus zu begründen und zu legitimieren.Schon die ersten Schritte der Verfolgung therapeutischer Ziele können dabei mit existierenden Normen in Konflikt geraten. Dazu gehört in Deutschland vor allem die Forschung an Embryonen, die durch das Embryonenschutzgesetz (ESchG) verboten ist. Die Forschung an einwilligungsunfähigen Menschen wie beispielsweise an Alzheimer-Patienten wird durch den 1947 in Nürnberg verabschiedeten Nürnberger Kodex und auch durch die Deklarationen des Weltärztebundes von Helsinki und Tokio von 1975 untersagt. Das 1997 vom Europarat verabschiedete »Übereinkommen über Menschenrechte und Biomedizin«, kurz auch »Bioethikkonvention« genannt, wendet sich jedoch von dieser Tradition ab und öffnet die Tür für bestimmte Typen von medizinischen Experimenten: In Ausnahmefällen sind unter bestimmten Bedingungen Forschungen an nicht einwilligungsfähigen Personen gestattet, deren Ergebnisse für sie selber nicht von Nutzen sind. Die Erzeugung menschlicher Embryonen zu Forschungszwecken bleibt zwar verboten, nicht aber die für kommerzielle Zwecke. Die Verwertung von Embryonen, die nach In-vitro-Fertilisation übrig bleiben, wird nicht erwähnt und ist demzufolge zu Forschungszwecken und auch zu kommerziellen Zwecken gestattet — es sei denn, nationale Gesetze wie das ESchG verbieten dies.Intensive Diskussionen im Vorfeld der Verabschiedung der Bioethikkonvention zeigten die Konflikte mit verbreiteten moralischen Grundüberzeugungen: Keine therapeutische Strategie, und sei sie auch sehr viel konkreter als die heutigen Visionen zukünftiger Krankheitskontrolle, rechtfertigt eine solche Verzweckung menschlichen Lebens. Dennoch wird der Weg dahin durch eine — scheinbar nur auf der begrifflichen Ebene erfolgende — Differenzierung der Schutzwürdigkeit menschlichen Lebens gebahnt: Im Reagenzglas erzeugte Embryonen sind keine potenziellen Menschen, sondern sie werden zu »Prä-Embryos«, zu Vorembryonen deklariert. Das »therapeutische« Klonen von Embryonen zum Zwecke der Forschung und der Herstellung transplantierbaren Gewebes wird vom für verwerflich gehaltenen »reproduktiven« Klonen, mit dessen Hilfe Menschen erzeugt werden sollen, abgetrennt und dadurch legitimiert. Diese begriffliche Differenzierung steht auch für eine moralische Fragmentierung und schleichende Entmoralisierung menschlichen Lebens. Mit ihr schickt sich die moderne Biomedizin an, dorthin zu gehen, wohin sich die Medizin bislang nicht gewagt hat und — so ist zu ergänzen — wohin sie sich auch nicht wagen sollte: nämlich menschliches Leben als Mittel zum Zweck einzusetzen und ihm in Abhängigkeit vom Seinsstadium unterschiedlichen Wert und unterschiedliche Würde zuzuerkennen.Aushöhlung moralischer Standards?Zu weiten Teilen entziehen sich diese Entwicklungen der bewussten gesellschaftlichen Wahrnehmung: Serielle Klone von Filmstars wird es kaum geben, und die zu Ersatzgewebe transformierten embryonalen Klone lassen ihre Herkunft nicht mehr erkennen.Auch am Beispiel der Gendiagnostik lässt sich die schleichende Erosion moralischer Standards, die im Zusammenhang mit der modernen Biomedizin zu verzeichnen ist, demonstrieren. Im Regelfall soll eine genetische Untersuchung nach einer intensiven humangenetischen Beratung erfolgen, bei der umfassend über die möglichen Konsequenzen einer solchen Untersuchung für das betroffene Individuum und seine Angehörigen informiert und Hilfestellung bei der Entscheidungsfindung gegeben wird. Ziel ist, dass die oder der Betroffene sich auf der Grundlage dieses Wissens freiwillig für oder gegen eine genetische Untersuchung entscheiden kann.Diesem Vorgehen liegt ebenfalls der Respekt vor der Autonomie der Ratsuchenden zugrunde. Das Prinzip der Autonomie ist aber nicht nur das Fundament, sondern gleichzeitig auch das grundlegende Problem der genetischen Beratung und Diagnostik. Denn wenn die Verantwortung für die Durchführung einer solchen Untersuchung ausschließlich den Ratsuchenden übereignet wird, werden die sozialen und ökonomischen Faktoren, welche die Testentscheidung beeinflussen, verdrängt. In einer Gesellschaft der zerfallenden sozialen Bindungen und Sicherungssysteme müssen sich die Individuen nahezu zwangsläufig gegen Kinder mit gesundheitlichen Einschränkungen entscheiden, um ihre soziale wie ökonomische Unabhängigkeit zu bewahren. Der Wert von Gesundheit wird umso größer, je schwieriger es für Kranke und Behinderte ist, die heutigen Leistungsstandards und sozialen Mobilitätsforderungen zu erfüllen.Die genetische Diagnostik wird zunehmend nicht nur im Bereich der Humangenetik eingesetzt, sondern auch in anderen klinischen Bereichen wie der Onkologie, wo eine Beratung häufig nicht vorgesehen ist oder nicht mit hinreichender Sorgfalt durchgeführt werden kann. Bei solchen Untersuchungen fallen jedoch Informationen über genetische Risiken von Angehörige und Verwandten an, die nicht nur das Verhältnis zwischen Familienangehörigen verändern, sondern im gesellschaftlichen Kontext auch zur Etikettierung, Stigmatisierung und Diskriminierung führen können. Insofern gehören eine sorgfältige Beratung und die Vertraulichkeit genetischer Daten zu den Mindestanforderungen, die an die Vertretbarkeit solcher Untersuchungen gestellt werden müssen.Die zunehmende Kenntnis über die Struktur der DNA und über die Rolle einzelner Sequenzveränderungen bei der Entstehung von Erbkrankheiten verführt dazu, den Genen einen dominierenden Einfluss nicht nur auf Gesundheit und Krankheit, sondern auch auf Verhalten und kognitive Eigenschaften zuzuschreiben. Bei der Suche nach Genvarianten, die mit dem Auftreten hoher Intelligenzquotienten korrelieren, werden bereits erste Erfolge gemeldet. Obwohl die leitenden Hypothesen und methodischen Grundlagen solcher Forschungskonzepte von vielen Wissenschaftlern in Zweifel gezogen werden, tragen sie vor allem in popularisierter Form dazu bei, dass mehr und mehr der Eindruck entsteht, nicht nur einzelne Proteine, biochemische Reaktionen oder zelluläre Strukturen seien genetisch determiniert, sondern auch menschliche Eigenschaften im engeren Sinn, wie beispielsweise Sozialverhalten, musische Fähigkeiten oder Intelligenz.Wie soll mit diesem ständig wachsenden Wissen über das menschliche Erbmaterial umgegangen werden? Wird das Ergebnis genetischer Tests über die Höhe der Kranken- und Lebensversicherungsbeiträge entscheiden? Werden von solchen Dispositionen betroffene Personen zu lebenslanger Prävention verurteilt sein, von der häufig nicht gesagt werden kann, wie wirksam sie beim Einzelnen tatsächlich ist? Und was geschieht mit Föten, von deren genetischer Ausstattung man glaubt, dass ihr späterer Intelligenquotient niedrig sein wird? Wird man sie abtreiben oder ihnen im Kindesalter die Nutzung von Ausbildungsressourcen verweigern, weil sie für nur begrenzt bildungsfähig gehalten werden?In welche Richtung die Entwicklung geht, wird in hohem Maße nicht nur von den wissenschaftlichen Errungenschaften, sondern vor allem von den Diskussionen darüber abhängen, wie die Gesellschaft in Zukunft mit dem Wissen über die Manipulierbarbeit der menschlichen und außermenschlichen Natur leben und wie sie es nutzen will. In den letzten Jahren hat die seit Anfang der 1970er-Jahre etablierte Bioethik zunehmend Anspruch darauf erhoben, Kriterien, Maßstäbe und Leitlinien für ethisch Vertretbares oder Verwerfliches bereitstellen zu können. In einigen Fällen hat die Bioethik so dazu beigetragen die extremsten Formen biomedizinischen Machtmissbrauchs wie zum Beispiel die Manipulation der menschlichen Keimbahn oder das Klonen von Menschen bislang zu verhindern. Aber sie hat auch dafür gesorgt, dass das moralisch Mögliche und Durchsetzbare nicht im Status quo verharrt, sondern dass der Anschluss an das technisch Machbare immer wieder hergestellt wird. Auf diesem Wege schaffen bioethische Normen der weiteren Technikentwicklung einen konfliktbereinigten Schonraum, und letztlich wird nichts verbaut. Bioethische Normen reflektieren so die aktuelle Situation — und zwar gleichermaßen die der Moral und die der Technik. Wenn eine nachdrängende Technik hinreichend erfolgreich wird, verändert sich sofort die Balance der moralischen Überlegungen und Abwägungen.Daher haben bioethische Normen keinen endgültigen Charakter. Der Bioethik wird es kaum gelingen, langfristig verbindliche Standards und Grenzen zu setzen — im Gegenteil: Wie sich im Zusammenhang mit der Reproduktionsmedizin und Gendiagnostik zeigen lässt, ist die baldige Erosion dieser Normen nicht aufzuhalten, sie erscheint geradezu als moralischer Sachzwang. Durch das zukünftig als machbar Deklarierte kommt es deshalb immer wieder zu einer — wie der Darmstädter Philosoph Gernot Böhme es kürzlich formuliert hat — »technologischen Aushöhlung des Üblichen«, das das Fundament der Moralität einer Gesellschaft darstellt. Was zur Normalität menschlichen Lebens gehört oder gehören soll, kann und darf jedoch nicht allein durch die Dynamik der Technikentwicklung entschieden werden. Ob zur Normalität menschlichen Lebens Klone, chaotische Generationenverhältnisse, lebenslanges Präventionsverhalten, Zuteilung von Gesundheits- oder Ausbildungsressourcen auf der Grundlage genetischer Tests oder — wie die amerikanische Soziologin Dorothy Nelkin befürchtet — die Herausbildung einer neuen genetischen Unterschicht gehören soll, sind Fragen, welche die Gesellschaft als Ganzes angehen. Sie dürfen nicht nur von einzelnen Interessengruppen entschieden werden.Prof. Dr. Regine KollekGrundlegende Informationen finden Sie unter:Gentechnik: Anwendung in Landwirtschaft und ErnährungGentechnik: Anwendung in Pharmazie und MedizinGentechnik: Anwendung in Wissenschaft und Forschung
Universal-Lexikon. 2012.